Die Stunde Null aus der Perspektive von Anna Wrobel

Anna Wrobel, damals noch Anna Tzieply Foto 1, wurde am 28. Mai 1930 im schlesischen Groß Peterwitz (heute: Pietrowice Wielkie, Polen) geboren. Der 2. Weltkrieg begann am 1. September 1939, als sie in der dritten Klasse war. Die Großzeit der Kriegsjahre verlief in der Region ruhig, zwar wurden Lebensmittel und Kleider stark rationiert, aber Informationen zum Kriegsgeschehen bekam man nur durch das Radio.

Im November 1944 näherte sich die russische Front Schlesien. Der Verlauf der Oder entwickelte sich zur Grenze zwischen den deutschen und den russischen Streitkräften. In jenem November ereigneten sich auch die ersten Bombenangriffe auf die Region. Die 14-jährige Anna war eines Tages mit ihrer Freundin auf dem Weg von der Berufsschule nach Hause, als Flugzeuge am Himmel auftauchten. Die beiden ahnten keine Gefahr, bis sie von einer riesigen Druckwelle von den Füßen gerissen wurden. Mit dem Gesicht im Schlamm in einem Graben hatte Anna zum ersten Mal in ihrem Leben Todesangst. Die örtliche Textilfabrik sollte zerstört werden, so geschah es auch. Seitdem ereigneten sich immer wieder Bombenangriffe. Wie die einheimische Bevölkerung, wussten auch die Allierten, dass sich irgendwo im Umkreis ein geheimes unterirdisches Waffen- und Munitionslager befinden musste. Den genauen Standort aber, kannte niemand. Der Umkreis von Groß Peterwitz verwandelte sich immer mehr in eine karge Kraterlandschaft mit großen Erdlöchern, in die ganze Häuser hineingepasst hätten. Luftschutzbunker gab es in diesem Gebiet keine, die Leute versteckten sich auch nicht in ihren Kellern, als sie Bombengeschwader am Himmel erblickten. Eher stoisch beobachteten sie aus der Ferne, wie ihr Land zerstört wurde. Orte, die wichtig für die Kriegswirtschaft waren, waren Ziele der Luftangriffe.

Als sich zum Ende des Jahres 1944 abzeichnete, dass sie Deutschen ihre Stellung nicht mehr halten konnten, war die Regierung gezwungen, zu handeln: Die Bevölkerung sollte in Sicherheit gebracht werden. Am 28. Januar 1945 stand am Bahnhof plötzlich ein Zug bereit. Junge Kinder und ihre Mütter, also die besonders Schutzbedürftigen, mussten auf diese Weise das Gebiet verlassen. Von diesem Vorhaben erfuhr man erst vier Stunden vor Abfahrt des Zuges, außerdem konnte man selbst nicht darüber entscheiden, ob man dieses Angebot annehmen wollte - es war nämlich ein Befehl. Anna selbst hatte als Vierzehnjährige keinen Anspruch mehr auf diese Abreisegelegenheit, jedoch durfte sie als Begleitperson mit ihrer Schwester gehen, die Mutter eines zwei Wochen alten Kindes war.

Die übrige Bevölkerung war gezwungen, je weiter die russische Front nach Western drängte, auch gen Westen nach Böhmen und Mähren mitsamt Pferden, Wägen und Kindern zu ziehen. Bis Kriegsende waren sie schon, wie Nomaden, bis kurz vor Prag gezogen.

Die mehrtägige Zugfahrt war aufgrund von Schnee, Eis, Hunger und Durst ganz und gar nicht angenehm. In Wien waren alle Passagiere gezwungen, auszusteigen und in einem riesigen Luftschutzbunker einen Bombenangriff abzuwarten. Der Zug hatte bei der Weiterfahrt keine Fenster mehr, denn diese wurden beim Angriff zerstört. Die Kampfflugzeuge waren immer englische oder amerikanische. Die Russen kämpften überwiegend mit Artillerie und Brandbomben.

Die Zugfahrt ging bis Freistadt in Österreich. Von dort aus wurden die Passagiere auf umliegende Orte verteilt. Anna, ihre Schwester und der Säugling wurden von einer ledigen Dame in Leopoldschlag aufgenommen. Über diese Unterkunft war Anna sehr zufrieden.

Da die Front mit Nahrung beliefert werden musste, fuhren durch Leopoldschlag immer wieder Züge voller Lebensmittel. Oft fuhren sie gar nicht mehr bis zur Front, aufgrund der dortigen aussichtslosen Situation, und blieben einfach auf den Schienen stehen. Verlassene Züge wurden von den Leuten aus Not und Hunger geplündert. Generell herrschte ein großes Chaos und Durcheinander.

Der Tag der deutschen Kapitulation, der 8. Mai 1945, unterscheidete sich von den anderen Tagen eigentlich kaum. Man war aber froh darüber, dass der Krieg vorbei war. Endlich war das Schlachten vorbei, endlich keine Angst mehr vor Schüssen und Flugzeugen.

Die Rundfunkinformationen aus dem Radio, das von den Allierten übernommen wurde, waren nicht sehr aussagekräftig. Für eine lange Zeit wusste man nicht, wie es weiter gehen sollte.
Irgendwann zogen unter ihrer Wohnung Russen ein, die nach deutschen Soldaten suchten. Zu Beginn stellte das eine sehr beklemmende und leicht bedrohliche Situation dar, jedoch blieb alles friedlich, denn die Russen ließen die Zivilisten in Ruhe und umgekehrt genauso.

Schließlich befahl der österreichische Staat im August 1945 allen Flüchtlingen, in ihre Heimat zurückzukehren.

Die Rückreise nach Groß Peterwitz war eine der schlimmsten Geschehnisse in Annas ganzem Leben. Es begann damit, dass die Leute zwar angehalten waren, zu gehen, aber es überhaupt keine Organisation seitens des Staates gab, wie das ablaufen sollte - niemand kümmerte sich um die Menschen. Deutschland gab es nicht mehr, wer sollte sich nun um die Deutschen kümmern? Die Rückfahrt vollzog sich schließlich auf offenen Güterzügen, doch keiner wusste so genau, wann, wo und wohin welcher Zug fuhr. Der Großteil der Flüchtlinge wollte zuerst nach Wien reisen, also so wie auch die Fahrt im Januar ablief, und von dort dann weitersehen. Dies war ebenfalls der Plan von Anna und und ihren Angehörigen. Die drei befanden sich schon im Zug nach Wien, als Annas Schwester von einer fürchterlichen Situation in der österreichischen Hauptstadt erfuhr. In Wien herrschte eine schlimme Typhus-Epidemie. Leute starben und verendeten auf Wiesen und in Bächen. Es gab keine Hygiene und keine Medikamente, generell herrschte ein Zustand vergleichbar mit den Pest-Seuchen im Mittelalter.

Im letzten Augenblick sprangen die drei aus dem Zug Richtung Wien und fuhren Richtung Brünn in Tschechien.

Ein besonderes Ereignis passierte, als ein sehr junger deutscher Soldat auf den Zug sprang und in Lebensangst um Hilfe bat. Er wurde von Russen verfolgt, vor allem deswegen, weil er, auch aus Mangel an Alternativen, noch eine deutsche Soldatenjacke trug. Anna rettete ihm womöglich sein Leben, indem sie einen roten Rollkragenpullover aus ihrem Gepäck nahm, diesen dem Jungen schenkte und seine Jacke von Bord schmiss. Dieser Pullover war das letzte Andenken an Annas verstorbenen Bruder, der 1944 mit 19 Jahren in Russland bei einer Explosion ums Leben kam. Nach einer mehrtägigen Fahrt verließen die drei den Zug und machten sich zu Fuß auf den Weg nach Groß Peterwitz. Der Heimweg, auf dem man bei Fremden übernachtete, sollte noch Tage dauern. Eines Tages wurden sie in einer Unterkunft von Russen überrascht, die sie und andere Frauen vergewaltigen wollten. Nur mit Glück blieben sie unversehrt. Gemeinsam mit anderen Frauen verbarrikadierten sie mit Schränken und Möbeln den Eingang zu ihren Schlafräumen. Die Soldaten waren außer sich und tobten, traten und schlugen gegen die Tür, schossen mit ihren Gewähren. Doch die Frauen blieben unversehrt. Nie hat Anna so viel gebetet, wie in diesen Momenten.

Gegen Ende August 1945 kamen die drei nachts in Groß Peterwitz an. Vieles im Dorf war zerstört, das Elternahus hatte auch keine Fenster mehr, doch die Eltern waren zu Hause.

Einige Zeit später, gingen die russischen Besatzer von Hof zu Hof und suchten nach jungen Frauen, die man nach Russland schicken konnte, um sie auf Feldern arbeiten zu lassen. Anna und ihre Schwester versteckten sich im Hühnerstall vor den bewaffneten Soldaten und wurden nicht gefunden. Dies war auch ein sehr einschneidendes Erlebnis in Annas Leben.

Als sich die polnische Regierung in Schlesien bildete, kam etwas mehr Odnung und Normalität in das Leben der Leute. Über den Frieden und die sich verbessernden Lebensumstände war man froh. Jedoch entwickelten sich viele Konflikte zwischen der polnischen Verwaltung, vor allem der Polizei, und der ehemals deutschen Bevölkerung. Den deutschen Haushalten nahm die polnische Miliz wertvolle Möbel und sonstige Gegenstände weg. Vor allem bei Festlichkeiten, wo regelmäßig deutsche Volkslieder gesungen wurden, kam es zu großen Auseinandersetzungen und Schlägereien zwischen den deutschen Jugendlichen und der polnischen Polizei. Es wurde verboten, Deutsch zu sprechen - andere Sprachen, abgesehen vom regionalen Dialekt, der Elemente des Tschechischen beinhaltete, beherrschte man aber nicht.

Ab 1946/47 verschwanden die Russen aus den Gebieten und Schlesien wurde Teil des polnischen Staates. Dass die Deutschen nicht mehr Deutsche sein durften und sozial benachteiligt waren, gefiel ganz und gar nicht.

Heute blickt Anna sehr gelassen auf diese Zeit zurück. Sie ist froh, dass Deutschland den Krieg verspielt hat, denn sie denkt, bei einem Sieg wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Außerdem findet sie, dass man irgendwann mit diesen Geschichten abschließen und die Vergangenheit ruhen lassen sollte.

Anna dankt Gott für ihr Leben und ist felsenfest davon überzeugt, dass sie es ohne ihren Glauben niemals geschafft hätte.

Sie ist sich sicher, dass jeder Mensch zu beten lernt, wenn er mal richtig in Not ist. Sie empfiehlt allen, nicht den Glauben zu verlieren, denn wenn man ihn verliert, ist man selbst verloren.

Mateusz Wrobel